Samstag, 5. November 2011

Dream yourself far away!


    Die junge Frau hat in der brechend vollen S-Bahn grad noch einen Sitzplatz am Fenster ergattern können. Die Menschen drängen sich, schon längst hat jeder den Haltearm eines Nachbarn am Kinn und bei jeder Bremsung hindern sich die Menschen von ganz allein gegenseitig daran umzufallen. Eigentlich hat die junge Frau ein bisschen Angst vor Menschenmassen und fühlt sich unwohl, wenn ihr andere näher als fünfzig Zentimeter kommen. Ihr Sitznachbar drückt sie in Richtung Fenster, ihr Gegenüber scheint mit seiner großen Tasche auf seinem Schoß schon fast auf ihrem zu sitzen. Eigentlich bräuchte sie nach einem stressigen Tag dringend ein bisschen Entspannung, ihre Kollegen haben sie schon die ganze Zeit unter Druck gesetzt und zu allem Überfluss droht auch noch ihr Freund sie aus seiner Wohnung zu schmeißen. Eigentlich sollte alles in dieser überquellenden stickigen S-Bahn sie daran hindern sich endlich die lebenswichtige mentale Auszeit zu gönnen – doch die junge Frau merkt garnichts von dieser Situation, die sie eigentlich noch mehr verkrampfen lassen sollte, sie ist abwesend. Sie schaut versonnen aus dem Fenster, das Kinn in die Hand gelegt. Ihre Augen sind in die Ferne gerichtet. Sie ist weit, weit weg von all diesen Menschen, obwohl diese sie sogar berühren.


    Tagträume sind etwas ganz alltägliches, jeder träumt. Aber kaum einer realisiert, wie oft er wirklich abwesend ist und was es bedeutet, zu träumen. Eine Studie kam zu dem Ergebnis, dass wir bis zu 50% der Wachzeit mit Tagträumen verbringen. Wobei diese Studie jegliches Abschweifen von der eigentlichen aktuellen Tätigkeit als Tagtraum definierte, da oft schon dortbei gegenwärtige Sinneseindrücke nicht mehr realisiert werden. Weiter untersuchte diese Studie die Auswirkungen von Tagträumen. So förderte gelegentliches Entschweifen zum Beispiel die Konzentration danach. Außerdem fanden die Forscher heraus, dass es Menschen die in Berufen arbeiten die eine dauerhaft hohe Konzentration erfordern (wie z.B. Fluglotsen oder die Ingenieure im Kontrollraum eines Atomkraftwerks), gesundheitlich beeinträchtigt die kurzen Abwesenheiten zu unterdrücken. Verschiedene Arten von Unwohlsein können die Folgen von (z.B. berufsbedingten) zu langem Unterdrücken der Träumereien sein.
    Ein Tagtraum kommt plötzlich und geht eher unkontrolliert bestimmten Gedanken nach, in diesen Träumen zeigen sich oft, wenn auch nicht offensichtlich, unsere tiefsten Beweggründe und Ziele, aus ihnen könnten wir also viel lernen – würden wir sie bemerken. Denn die meisten Menschen erinnern sich, wie auch an ihre nächtlichen Träume, kaum an Tagträume. Jedoch kann das Herumwandern in den eigenen Gedanken auch durchaus nützlich sein – die Forscher der vorhin genannten Studie stellten Überlegungen an, inwiefern die Träumereien einen evolutiven Vorteil darstellten und bis heute erhalten geblieben sind. Bem freien Umherschweifen in Gedanken können völlig neue Horizonte und Ideen erforscht werden. So wurden – um nur ein eher unbedeutendes Beispiel zu nennen – die Post-it-Notizzettel in einem Tagtraum erfunden: Ihr Erfinder saß in einer langweiligen Predigt und starrte auf sein Gesangsbuch. Ziellos und unbewusst fing er an zu überlegen, wie er auf einfache Weise schnell zu den üblichen Kirchenliedern blättern könnte – und kam auf die Idee Papierstückchen mit einem Haftstreifen zu versehen. Auch aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass das unabsichtliche Abschweifen in die eigenen Gedanken beim Erwachen oft ein Gefühl von Sicherheit gibt, eine Lösung gefunden zu haben. Zum Beispiel spielt man gerne irgendwelche Situationen vorher zig Mal in Gedanken durch um auf verschiedene Möglichkeiten vorzubereitet sein – auch das zählt als Tagtraum.

    Unterschiedlich ist natürlich die Intensität und Realitätsnähe der Träume. Manchmal denkt man über kommende Situationen nach und sieht diese vor sich, manchmal träumt man von einem besseren Leben oder stellt sich das Leben eines anderen lebhaft vor oder durchlebt alte Erinnerungen noch einmal. Manchmal sind es bloß leise Gedankenfetzen, manchmal sieht man sie lebhaft vor sich und hört und fühlt mit ihnen. Im Bus, beim Essen, in der Schule, beim Stricken – überall schweift man gerne mal ab. Doch ich wage nun zu behaupten, dass die Menschen früher deutlich mehr und anders geträumt haben und dass die Menschen heute unfreier Träumen. Wer oft fernsieht und Medien „konsumiert“ nimmt unfreiwillig die gesehenen Ideale und Darstellungen an. Die Freiheit des „Konsumenten“ selbst komplett frei zu träumen wird eingeschränkt. Natürlich hatten die Menschen schon immer Ideale und Idole und haben auch versucht sie darzustellen, aber bei den „alten“ Darstellungsweisen musste der „Konsument“ stets selber denken um sie einzuordnen und zu interpretieren. Auch die Häufigkeit der Tagträume hat wahrscheinlich abgenommen: Denn heutzutage ist man andauernd für einen sehr langen Zeitraum auf etwas konzentriert. Als größtes Phänomen wäre hier das Fernsehen zu nennen. Manche Menschen sitzen viele Stunden am Stück vor dem Flimmerkasten, unfähig an etwas anderes zu denken. Manche sagen, sie würden ja eigentlich gar nicht zugucken – warum schalten sie dann nicht ab (den Fernseher bzw. ihre Aufmerksamkeit)? Die Menschen gucken Filme, spielen Spiele und interagieren in Social Networks rund um die Uhr mit ihren Mitmenschen, sind dabei jedoch meist deutlich länger am Stück bei einer Sache ohne abzuschweifen als dies zum Beispiel früher wohl bei einem Bauern der Fall gewesen sein mag. Während einfachen Tätigkeiten die nicht unsere ungeteilte Aufmerksamkeit auf sich ziehen schweift man automatisch schnell ab. Und das ist auch gut so, denn Tagträume können wie oben beschrieben helfen, sich über die eigenen Wünsche und Ziele klar zu werden und z.B. auf kommende Situationen vorbereitet zu sein. In der heutigen Informationsgesellschaft steht man jedoch unter dem Druck, dauerhaft erreichbar zu sein und kann es sich immer weniger leisten wirklich einmal abwesend zu sein. Auch wenn manche es nicht glauben mögen: Es macht einen großen Unterschied, ob man „abschalten“ will und dazu den Fernseher anschaltet oder ob man zum Beispiel eine Runde spazieren geht – ohne Handy versteht sich – und seinen inneren Fernseher benutzt.

In diesem Sinne: „Dream yourself far away!“

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