Die junge Frau hat in der brechend
vollen S-Bahn grad noch einen Sitzplatz am Fenster ergattern können.
Die Menschen drängen sich, schon längst hat jeder den Haltearm
eines Nachbarn am Kinn und bei jeder Bremsung hindern sich die
Menschen von ganz allein gegenseitig daran umzufallen. Eigentlich hat
die junge Frau ein bisschen Angst vor Menschenmassen und fühlt sich
unwohl, wenn ihr andere näher als fünfzig Zentimeter kommen. Ihr
Sitznachbar drückt sie in Richtung Fenster, ihr Gegenüber scheint
mit seiner großen Tasche auf seinem Schoß schon fast auf ihrem zu
sitzen. Eigentlich bräuchte sie nach einem stressigen Tag dringend
ein bisschen Entspannung, ihre Kollegen haben sie schon die ganze
Zeit unter Druck gesetzt und zu allem Überfluss droht auch noch ihr
Freund sie aus seiner Wohnung zu schmeißen. Eigentlich sollte alles
in dieser überquellenden stickigen S-Bahn sie daran hindern sich
endlich die lebenswichtige mentale Auszeit zu gönnen – doch die
junge Frau merkt garnichts von dieser Situation, die sie eigentlich
noch mehr verkrampfen lassen sollte, sie ist abwesend. Sie schaut
versonnen aus dem Fenster, das Kinn in die Hand gelegt. Ihre Augen
sind in die Ferne gerichtet. Sie ist weit, weit weg von all diesen
Menschen, obwohl diese sie sogar berühren.
Tagträume sind etwas ganz
alltägliches, jeder träumt. Aber kaum einer realisiert, wie oft er
wirklich „abwesend“
ist und was es bedeutet, zu träumen. Eine Studie kam zu dem
Ergebnis, dass wir bis zu 50% der Wachzeit mit Tagträumen
verbringen. Wobei diese Studie jegliches Abschweifen von der
eigentlichen aktuellen Tätigkeit als Tagtraum definierte, da oft
schon dortbei gegenwärtige Sinneseindrücke nicht mehr realisiert
werden. Weiter untersuchte diese Studie die Auswirkungen von
Tagträumen. So förderte gelegentliches Entschweifen zum Beispiel
die Konzentration danach. Außerdem fanden die Forscher heraus, dass
es Menschen die in Berufen arbeiten die eine dauerhaft hohe
Konzentration erfordern (wie z.B. Fluglotsen oder die Ingenieure im
Kontrollraum eines Atomkraftwerks), gesundheitlich beeinträchtigt
die kurzen Abwesenheiten zu unterdrücken. Verschiedene Arten von
Unwohlsein können die Folgen von (z.B. berufsbedingten) zu langem
Unterdrücken der Träumereien sein.
Ein Tagtraum kommt plötzlich und geht
eher unkontrolliert bestimmten Gedanken nach, in diesen Träumen
zeigen sich oft, wenn auch nicht offensichtlich, unsere tiefsten
Beweggründe und Ziele, aus ihnen könnten wir also viel lernen –
würden wir sie bemerken. Denn die meisten Menschen erinnern sich,
wie auch an ihre nächtlichen Träume, kaum an Tagträume. Jedoch
kann das Herumwandern in den eigenen Gedanken auch durchaus nützlich
sein – die Forscher der vorhin genannten Studie stellten
Überlegungen an, inwiefern die Träumereien einen evolutiven Vorteil
darstellten und bis heute erhalten geblieben sind. Bem freien
Umherschweifen in Gedanken können völlig neue Horizonte und Ideen
erforscht werden. So wurden – um nur ein eher unbedeutendes
Beispiel zu nennen – die Post-it-Notizzettel in einem Tagtraum
erfunden: Ihr Erfinder saß in einer langweiligen Predigt und starrte
auf sein Gesangsbuch. Ziellos und unbewusst fing er an zu überlegen,
wie er auf einfache Weise schnell zu den üblichen Kirchenliedern
blättern könnte – und kam auf die Idee Papierstückchen mit einem
Haftstreifen zu versehen. Auch aus eigener Erfahrung kann ich sagen,
dass das unabsichtliche Abschweifen in die eigenen Gedanken beim
Erwachen oft ein Gefühl von Sicherheit gibt, eine Lösung gefunden
zu haben. Zum Beispiel spielt man gerne irgendwelche Situationen
vorher zig Mal in Gedanken durch um auf verschiedene Möglichkeiten
vorzubereitet sein – auch das zählt als Tagtraum.
Unterschiedlich ist
natürlich die Intensität und Realitätsnähe der Träume. Manchmal
denkt man über kommende Situationen nach und sieht diese vor sich,
manchmal träumt man von einem besseren Leben oder stellt sich das
Leben eines anderen lebhaft vor oder durchlebt alte Erinnerungen noch
einmal. Manchmal sind es bloß leise Gedankenfetzen, manchmal sieht
man sie lebhaft vor sich und hört und fühlt mit ihnen. Im Bus, beim
Essen, in der Schule, beim Stricken – überall schweift man gerne
mal ab. Doch ich wage nun zu behaupten, dass die Menschen früher
deutlich mehr und anders geträumt haben und dass die Menschen heute
unfreier Träumen. Wer oft fernsieht und Medien „konsumiert“
nimmt unfreiwillig die gesehenen Ideale und Darstellungen an. Die
Freiheit des „Konsumenten“ selbst komplett frei zu träumen wird
eingeschränkt. Natürlich hatten die Menschen schon immer Ideale und
Idole und haben auch versucht sie darzustellen, aber bei den „alten“
Darstellungsweisen musste der „Konsument“ stets selber denken um
sie einzuordnen und zu interpretieren. Auch die Häufigkeit der
Tagträume hat wahrscheinlich abgenommen: Denn heutzutage ist man
andauernd für einen sehr langen Zeitraum auf etwas konzentriert. Als
größtes Phänomen wäre hier das Fernsehen zu nennen. Manche
Menschen sitzen viele Stunden am Stück vor dem Flimmerkasten,
unfähig an etwas anderes zu denken. Manche sagen, sie würden ja
eigentlich gar nicht zugucken – warum schalten sie dann nicht ab
(den Fernseher bzw. ihre Aufmerksamkeit)? Die Menschen gucken Filme,
spielen Spiele und interagieren in Social Networks rund um die Uhr
mit ihren Mitmenschen, sind dabei jedoch meist deutlich länger am
Stück bei einer Sache ohne abzuschweifen als dies zum Beispiel
früher wohl bei einem Bauern der Fall gewesen sein mag. Während
einfachen Tätigkeiten die nicht unsere ungeteilte Aufmerksamkeit auf
sich ziehen schweift man automatisch schnell ab. Und das ist auch gut
so, denn Tagträume können wie oben beschrieben helfen, sich über
die eigenen Wünsche und Ziele klar zu werden und z.B. auf kommende
Situationen vorbereitet zu sein. In der heutigen
Informationsgesellschaft steht man jedoch unter dem Druck, dauerhaft
erreichbar zu sein und kann es sich immer weniger leisten wirklich
einmal abwesend zu sein. Auch wenn manche es nicht glauben mögen: Es
macht einen großen Unterschied, ob man „abschalten“ will und
dazu den Fernseher anschaltet oder ob man zum Beispiel eine Runde
spazieren geht – ohne Handy versteht sich – und seinen inneren
Fernseher benutzt.
In diesem
Sinne: „Dream yourself far away!“
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