Wie jeden Tag ging ich, nach dem gemeinsamen Mittagessen
mit meinem Herrn Vater, auf mein Zimmer. Aber trotzdem war Heute
nicht wie immer. Heute war ein ganz besonderer Tag: Mein geliebter
Goethe wollte mich besuchen kommen, schon in wenigen Stunden! Mein
Vater, der Pfarrer von Sesenheim, hatte noch Besuch aus dem Dorf und
hätte mich eigentlich auch gerne unten gesehen – denn wenn die
Familie Brion für etwas bekannt war, dann für ihre
Gastfreundschaft. Aber ich konnte schon jetzt an nichts anderes mehr
denken als an Goethes Besuch.
Um nicht vor Ungeduld und Vorfreude zu platzen, nahm ich
mein Strickzeug und stellte mir einen Stuhl ans Fenster. Unser Haus
lag eher am Rand des Dorfes und von meinem Fenster aus konnte ich ein
ganzes Stück den Weg Richtung Straßburg entlangsehen. Ich starrte
sehnsüchtig aus dem Fenster, zerrte in Gedanken den anmutigen Reiter
näher an die Hügelkuppe über die er bald – hoffentlich sehr bald
– kommen würde.
Mein Herz schlug schneller, als ich mich an den jungen
Straßburger Studenten erinnerte. Sein männliches Gesicht, sein
stoppeliges Kinn, das beim Küssen immer so herrlich an meinem
kratzte, sein kluges Lachen – ich liebte einfach alles an ihm. Und
je näher unser nächstes Treffen rückte, desto mehr vermisste ich
ihn. Im Moment wusste ich überhaupt nicht, wie ich es die Woche nur
ohne ihn ausgehalten hatte.
Es klopfte. Ich sah mich um, meine Schwester Maria stand
in der Tür.
„Du kannst es kaum erwarten, oder?“, sagte sie mit
einem kecken Grinsen im Gesicht.
Schnell schaute ich wieder verträumt aus dem Fenster,
ich war leicht rot geworden. Ohne hinzusehen strickte ich ein paar
Maschen weiter. Die Dielen knarrten unter Marias Schritten, als sie
sich langsam näherte und sich hinter mich stellte. Sie legte mir
ihre Hand auf die Schulter und schaute gemeinsam mit mir verträumt
aus dem Fenster. Dann beugte sie sich über mich. Sie nahm mir das
Strickzeug aus der Hand und fing an zu lachen, als sie das unförmige
Etwas sah, das ich in meiner geistigen Abwesenheit aus der Socke
gemacht hatte.
„Was soll das werden? Ein Eierwärmer für
Straußeneier?“
Sie steckte prüfend die Faust hinein.
„Nein, eine Schutzsocke für so Naseweise wie dich!“,
entgegnete ich und stülpte ihr das Socken-Etwas über die Nase. So
kabbelten wir eine Weile lachend.
„Willst du nicht vielleicht doch runterkommen? Vater
hat einen ganz exotischen Tee beim Kaufmann ergattert, das kannst du
dir nicht entgehen lassen. Glaub mir, du verpasst seine Ankunft schon
nicht.“
Schließlich ging ich mit ihr hinunter zum Tee um mir
das Warten doch noch etwas zu erleichtern – auch wenn darunter
natürlich die Vorfreude litt. Die Teegesellschaft löste sich auf
und unsere Gäste gingen wieder nach Hause.
Es dämmerte allmählich und Goethe war immer noch nicht
da. Ich machte mir da nichts draus. Es war schließlich weit bis
Straßburg und es konnte einiges dazwischen kommen. Und vor lauter
Erinnerungen in Liebe war überhaupt kein Platz für Sorgen in meinem
Herzen. Und so setzte ich mich wieder an mein Fenster und sah
besonnen in die Ferne. Als es dunkel wurde stellte ich eine Kerze als
Zeichen ans Fenster, damit er sofort sah, dass ich auf ihn wartete.
Ich erinnerte mich noch genau an unser erstes Treffen.
Eigentlich war es kein Treffen, er war nur zufällig mit einem Freund
ins Dorf gekommen und bei der Pfarrersfamilie eingekehrt. Doch als
wir uns dort bei Tisch das erste Mal sahen, übermannte die Liebe uns
sofort. Und seitdem kam er regelmäßig den weiten Weg von Straßburg
hierher nach Sesenheim. Und wir genossen die wenige Zeit die wir
zusammen hatten, wie sie zwei junge verliebte Menschen nur genießen
konnten. Vor meinem Vater mussten wir uns natürlich etwas braver
verhalten, als es vielleicht unsere Natur war, aber wir hatten weiß
Gott viel Freude miteinander gehabt!
Da! Waren das Pferdehufe in der Ferne?
Ich lauschte angestrengt, hielt meinen Atem an.
Hauptsächlich hörte ich mein Herz klopfen, das im Angesicht des
Wiedersehens vollkommen verrückt spielte. Tatsächlich, zu dem
durchdringenden Schlagen meines Herzens mischte sich ein immer lauter
werdendes Hufgetrappel. Beim angestrengten Lauschen hatte ich die
Augen geschlossen und den Kopf gesenkt, jetzt ergriff eine
berauschende Freude mich, als ich den Kopf hob und durch das Fenster
einen dunklen Reiter auf dem Weg ins Dorf ausmachen konnte.
Mich konnte nichts mehr auf diesem Stuhl halten, ich
sprang energisch auf und wuselte wie ein überdrehtes Nagetier durch
mein Zimmer. Legte das Dekor schöner hin, ging zum Spiegel, nestelte
an meinen langen goldblonden Zöpfen herum.
„Goethe ist im Anmarsch!“, rief Maria vom anderen
Ende des Hauses aus, „Friederike benimmt sich schon wieder wie ein
Bienenschwarm in Aufbruchsstimmung.“, ergänzte sie augenrollend
und mit einem schrägen Lächeln, als ich die Treppe hinunter
gehastet kam.
Nur in meinem kurzen Elsässer Kleid rannte ich hinaus
in die laue Sommerluft. Ich eilte ihm bis zum Ortseingang entgegen,
wo ich ihn unruhig erwartete. Jetzt trennte mich nur noch eine kleine
Wegbiegung von meinem Geliebten, über die ich aus meinem Zimmer
hatte hinwegsehen können. Das Klappern der Hufe eilte ihm als
Ankündigung voraus, ihr Rhythmus stimmte mich auf seine Ankunft ein.
Dass es eine sehr schöne Nacht war bemerkte ich kaum.
Ich bemerkte nicht, dass es am Vollmond gelegen hatte, dass ich ihn
bereits aus so großer Entfernung entdeckt hatte. Ich schrieb es auch
nicht dem Wind zu – der aus Goethes Richtung blies als ob dieser
die Luftmassen vor sich herschob – dass ich sein Pferd bereits so
früh gehört hatte.
Da kam er um die Biegung. Eine männliche Reitergestalt,
vom Mond in einen silbergrauen Schein getaucht. Er saß aufrecht und
kräftig auf seinem Pferd, seine Haltung zeugte nicht von den
Strapazen der Reise, die er hinter sich hatte. Wie stark er doch war,
mein Goethe! Als er mich entdeckte, nahm er eine Hand vom Zügel und
streckte sie nach mir aus. Er sehnte sich nach mir! Ich sehnte mich
nach ihm. Das Warten hatte ein Ende! Er zügelte sein Pferd, als er
noch etwa einen Steinwurf entfernt war. Ich machte noch ein paar
hastige Schritte auf ihn zu, dann standen wir nebeneinander. Er stieg
gar nicht erst ab, er beugte sich vom Pferd herunter, weit vornüber,
und küsste mich. Es war einfach wunderbar. Unsere Lippen wollten
sich nie wieder loslassen. Ich vergaß völlig in welch merkwürdiger
Pose wir eigentlich verweilten – ich vergaß alles um mich herum.
Da war nur Goethe. Sein stoppeliges Kinn, seine warmen Lippen, seine
behandschuhte Hand, die mich im Nacken streichelte. Irgendwann gewann
dann doch die Schwerkraft und Goethe kippte vornüber vom Pferd. Er
stürzte förmlich auf mich drauf. Ich umarmte ihn eng, um ihm am
Fallen zu hindern, er verhedderte sich mit dem Fuß im Sattel –
schließlich endeten wir als lachendes Häuflein auf der Straße. Er
war auf mich drauf gefallen und er wollte schon wieder aufstehen,
doch ich riss ihn mit einer Umarmung wieder an mich und band ihn in
einen erneuten, unendlich währenden Kuss. Ich drehte mich herum und
wälzte mich über ihn. Meine Zöpfe fielen über meine Schulter und
kitzelten ihn im Gesicht. Er versuchte mich lachend abzuschütteln,
doch ich saß fest auf ihm wie ein Rodeoreiter.
Schließlich schafften wir es doch noch zum
Pfarrershaus. Wir banden sein Pferd an und gingen hinein um meine
Familie zu begrüßen. Meine Mutter billigte mein staubiges Kleid mit
einem tadelnden Blick, bei den Übrigen lösten die recht eindeutigen
Dreckflecken jedoch Gelächter aus. Goethe hatte jedem ein Geschenk
aus der Stadt mitgebracht. Bücher für meinem Vater, einfachen
Schmuck für die Frauen (Maria bekam eine kupferne Brosche, ich eine
silberne Haarnadel). Aber eigentlich hielt uns nicht viel im Haus und
in Gesellschaft. Und so verabschiedeten wir uns gleich wieder auf
einen Spaziergang.
Wir liefen Hand in Hand einfach los. Überließen
unseren Weg Gottes Gutdünken. Wir strichen durch die Wiesen, Felder
und Wälder rund um das Dorf. Es war wunderbar draußen unter dem
Vollmond. Auf einem kleinen Hügel an einem Waldrand setzten wir uns
ins hohe Gras. Die Grillen zirpten, die Gräser raschelten in der
angenehm kühlen nächtlichen Brise. Die Wolken huschten wie
fliegende Watte vor dem Mond her. Die Luft roch lieblich frisch nach
Wiesenkräutern – aber auch nach dem Vieh. Wir saßen minutenlang
nur so da und umarmten uns lächelnd. Wir genossen die wunderschöne
Nacht, die Natur und das Zusammensein. Gedankenverloren spielte seine
Hand mit einer Strähne an meinem Ohr, die es nicht in meinen Zopf
geschafft hatte. Ich kuschelte meinen Kopf an seine weiche Wange. Wir
hatten diesen Platz komplett für uns allein. Kaum jemand war um
diese Zeit überhaupt noch wach. Höchstens das verrückte
Studentenvolk, dessen liebenswertester Sprössling hier dicht bei mir
war. Kein Mensch war weit und breit zu hören oder gar zu sehen.
Sogar das Vieh schlief – anders als die Wildtiere, die die typische
nächtliche Geräuschkulisse aus Zirpen, Schuhuen, Flattern und
Knacken lieferten. Aber wir hatten diesen Platz für uns allein.
Diese ganze Nacht, für uns.
Ich wollte es nicht wahrhaben, aber auch dieses Mal ging
vorbei. Wir wurden schmerzlich daran erinnert, als ein erster
rötlicher Schein der Morgendämmerung am Horizont auftauchte.
Immerhin half mir das spärliche Licht dabei meinen Schuh zu finden,
den ich irgendwo in dem hohen Gras verloren hatte. Goethe faltete
gerade seinen Hemdkragen zurecht, ohne hinzusehen. Sein Blick war
nachdenklich-verschlossen auf den Morgenstreifen gerichtet. Dieser
Blick ließ mein Hochgefühl langsam aber sicher verebben.
„Was ist?“, fragte ich ihn, indem ich ihm meinen Arm
um die Schultern legte.
„Was?“, fragte er aufgeschreckt. Er guckte mich
fragend an. Doch in seinem Blick lag mehr als nur eine
unterschwellige Traurigkeit.
„Worüber sinnst du so angestrengt nach? Was macht
dich so traurig?“, hakte ich nach.
„Ach, nichts. Nur dass ich jetzt schon wieder von dir
weg muss.“
Er drückte mir einen heuchlerischen Kuss auf die Wange.
War das die ganze Wahrheit? Als er sah wie sich meine Züge
verklärten, ergänzte er schnell:
„Aber sei nicht traurig. Ich bin bald wieder da. Ich
werde immer da sein!“
Nichts hoffte ich mehr. Nichts wollte ich mehr, als
immer mit ihm zusammen zu sein. Doch der Gedanke versetzte mich aus
irgendeinem Grund nicht in eine solch euphorische Vorfreude, wie es
gestern Nachmittag der Gedanke an das Treffen heute Nacht getan
hatte. Irgendetwas passte nicht ins Bild. Wir hatten soviel Spaß
zusammen, doch auf irgendeine Weise passte nicht alles. Ich konnte
mir nicht wirklich vorstellen wie Goethes Arbeit war. Wie Goethe der
Student lebte. Wie ich, ein einfaches Mädchen vom Lande, in der
hohen Gesellschaft von Richtern und Rechtsgelehrten leben könnte.
Aber wir liebten uns! Das war doch schließlich alles, was zählte –
oder? Sein Blick verriet mir auch nichts über die Zukunft – unsere
Zukunft.
„Du liebst mich doch, oder?“, fragte ich ihn.
„Natürlich! Ich hab dir doch grad gesagt, dass ich
immer für dich da sein werde.“
Ich nickte und schluckte meine Sorgen im Ansatz
herunter. Aber neben der Sorge um die Zukunft blieb leider der
Abschied, der unmittelbar bevorstand – auch wenn es nur ein paar
Tage sein mochten, die uns trennen würden.
Wir waren wieder an unserem Haus angelangt. Goethe holte
wortlos sein Pferd. Wir standen uns kurz schweigend gegenüber,
wussten nicht, wie wir unsere Gefühle ausdrücken sollten.
Schließlich übermannten mich die Tränen und ich stürzte mich in
seine Arme. Auch seine Augen begannen zu glänzen und er musste
zwinkern.
„Bis zum nächsten Mal dann! Ich freue mich jetzt
schon. Ich kann's kaum erwarten.“, sagte er, während er versuchte
sich sanft aus der Umarmung zu lösen.
Was gab es dazu noch zu sagen? Ach ja.
„Ich liebe dich.“
„Ich dich auch.“, jetzt tropfte es auch aus seinen
Augen feucht und salzig. Ich küsste nocheinmal seinen Mund und
schmeckte das Salz. Unsere Nasen, feucht von den Tränen, rieben sich
aneinander während unseres minutenlangen Abschiedskusses. Die
Vorstellung, dies sei der letzte Kuss, das letzte Mal dass ich ihn
sah, hielt den trüben Schleier vor meinen Augen. Auch wenn ich mit
aller Anstrengung versuchte diesen Gedanken zu verdrängen wusste ich
doch, dass ich ihn so oder so erst einmal eine Weile nicht sehen
würde. Wie lange wirklich, wusste nur Gott. Er schwang sich in den
Sattel, hielt aber noch sehr lange meine Hand, bevor er schließlich
losritt. Er sah sich oft zu mir um, bis er um die erste Wegbiegung
ritt. Seine Gestalt war ein wenig zusammengesackt. Geknickt, im
wahrsten Sinne des Wortes. Ich wendete mich ab und ging ins Haus. Ich
spürte kaum die kühle Morgenluft, nicht den Türgriff in meiner
Hand und auch das vertraute Knarren der Treppenstufen unter meinen
Füßen nahm ich nicht wahr. Das raue Holz des Treppengeländers
glitt unter meiner Hand hindurch wie seine rauen Wangen.
Und ich setzte mich wieder auf den Stuhl ans Fenster.
[Eine Begegnung von Friederike und Goethe aus ihrer Sicht, Deutsch-Hausaufgabe]
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