Freitag, 4. November 2011

Goethe, mein Geliebter


Wie jeden Tag ging ich, nach dem gemeinsamen Mittagessen mit meinem Herrn Vater, auf mein Zimmer. Aber trotzdem war Heute nicht wie immer. Heute war ein ganz besonderer Tag: Mein geliebter Goethe wollte mich besuchen kommen, schon in wenigen Stunden! Mein Vater, der Pfarrer von Sesenheim, hatte noch Besuch aus dem Dorf und hätte mich eigentlich auch gerne unten gesehen – denn wenn die Familie Brion für etwas bekannt war, dann für ihre Gastfreundschaft. Aber ich konnte schon jetzt an nichts anderes mehr denken als an Goethes Besuch.
Um nicht vor Ungeduld und Vorfreude zu platzen, nahm ich mein Strickzeug und stellte mir einen Stuhl ans Fenster. Unser Haus lag eher am Rand des Dorfes und von meinem Fenster aus konnte ich ein ganzes Stück den Weg Richtung Straßburg entlangsehen. Ich starrte sehnsüchtig aus dem Fenster, zerrte in Gedanken den anmutigen Reiter näher an die Hügelkuppe über die er bald – hoffentlich sehr bald – kommen würde.
Mein Herz schlug schneller, als ich mich an den jungen Straßburger Studenten erinnerte. Sein männliches Gesicht, sein stoppeliges Kinn, das beim Küssen immer so herrlich an meinem kratzte, sein kluges Lachen – ich liebte einfach alles an ihm. Und je näher unser nächstes Treffen rückte, desto mehr vermisste ich ihn. Im Moment wusste ich überhaupt nicht, wie ich es die Woche nur ohne ihn ausgehalten hatte.
Es klopfte. Ich sah mich um, meine Schwester Maria stand in der Tür.
Du kannst es kaum erwarten, oder?“, sagte sie mit einem kecken Grinsen im Gesicht.
Schnell schaute ich wieder verträumt aus dem Fenster, ich war leicht rot geworden. Ohne hinzusehen strickte ich ein paar Maschen weiter. Die Dielen knarrten unter Marias Schritten, als sie sich langsam näherte und sich hinter mich stellte. Sie legte mir ihre Hand auf die Schulter und schaute gemeinsam mit mir verträumt aus dem Fenster. Dann beugte sie sich über mich. Sie nahm mir das Strickzeug aus der Hand und fing an zu lachen, als sie das unförmige Etwas sah, das ich in meiner geistigen Abwesenheit aus der Socke gemacht hatte.
Was soll das werden? Ein Eierwärmer für Straußeneier?“
Sie steckte prüfend die Faust hinein.
Nein, eine Schutzsocke für so Naseweise wie dich!“, entgegnete ich und stülpte ihr das Socken-Etwas über die Nase. So kabbelten wir eine Weile lachend.
Willst du nicht vielleicht doch runterkommen? Vater hat einen ganz exotischen Tee beim Kaufmann ergattert, das kannst du dir nicht entgehen lassen. Glaub mir, du verpasst seine Ankunft schon nicht.“
Schließlich ging ich mit ihr hinunter zum Tee um mir das Warten doch noch etwas zu erleichtern – auch wenn darunter natürlich die Vorfreude litt. Die Teegesellschaft löste sich auf und unsere Gäste gingen wieder nach Hause.
Es dämmerte allmählich und Goethe war immer noch nicht da. Ich machte mir da nichts draus. Es war schließlich weit bis Straßburg und es konnte einiges dazwischen kommen. Und vor lauter Erinnerungen in Liebe war überhaupt kein Platz für Sorgen in meinem Herzen. Und so setzte ich mich wieder an mein Fenster und sah besonnen in die Ferne. Als es dunkel wurde stellte ich eine Kerze als Zeichen ans Fenster, damit er sofort sah, dass ich auf ihn wartete.
Ich erinnerte mich noch genau an unser erstes Treffen. Eigentlich war es kein Treffen, er war nur zufällig mit einem Freund ins Dorf gekommen und bei der Pfarrersfamilie eingekehrt. Doch als wir uns dort bei Tisch das erste Mal sahen, übermannte die Liebe uns sofort. Und seitdem kam er regelmäßig den weiten Weg von Straßburg hierher nach Sesenheim. Und wir genossen die wenige Zeit die wir zusammen hatten, wie sie zwei junge verliebte Menschen nur genießen konnten. Vor meinem Vater mussten wir uns natürlich etwas braver verhalten, als es vielleicht unsere Natur war, aber wir hatten weiß Gott viel Freude miteinander gehabt!
Da! Waren das Pferdehufe in der Ferne?
Ich lauschte angestrengt, hielt meinen Atem an. Hauptsächlich hörte ich mein Herz klopfen, das im Angesicht des Wiedersehens vollkommen verrückt spielte. Tatsächlich, zu dem durchdringenden Schlagen meines Herzens mischte sich ein immer lauter werdendes Hufgetrappel. Beim angestrengten Lauschen hatte ich die Augen geschlossen und den Kopf gesenkt, jetzt ergriff eine berauschende Freude mich, als ich den Kopf hob und durch das Fenster einen dunklen Reiter auf dem Weg ins Dorf ausmachen konnte.
Mich konnte nichts mehr auf diesem Stuhl halten, ich sprang energisch auf und wuselte wie ein überdrehtes Nagetier durch mein Zimmer. Legte das Dekor schöner hin, ging zum Spiegel, nestelte an meinen langen goldblonden Zöpfen herum.
Goethe ist im Anmarsch!“, rief Maria vom anderen Ende des Hauses aus, „Friederike benimmt sich schon wieder wie ein Bienenschwarm in Aufbruchsstimmung.“, ergänzte sie augenrollend und mit einem schrägen Lächeln, als ich die Treppe hinunter gehastet kam.
Nur in meinem kurzen Elsässer Kleid rannte ich hinaus in die laue Sommerluft. Ich eilte ihm bis zum Ortseingang entgegen, wo ich ihn unruhig erwartete. Jetzt trennte mich nur noch eine kleine Wegbiegung von meinem Geliebten, über die ich aus meinem Zimmer hatte hinwegsehen können. Das Klappern der Hufe eilte ihm als Ankündigung voraus, ihr Rhythmus stimmte mich auf seine Ankunft ein.
Dass es eine sehr schöne Nacht war bemerkte ich kaum. Ich bemerkte nicht, dass es am Vollmond gelegen hatte, dass ich ihn bereits aus so großer Entfernung entdeckt hatte. Ich schrieb es auch nicht dem Wind zu – der aus Goethes Richtung blies als ob dieser die Luftmassen vor sich herschob – dass ich sein Pferd bereits so früh gehört hatte.

Da kam er um die Biegung. Eine männliche Reitergestalt, vom Mond in einen silbergrauen Schein getaucht. Er saß aufrecht und kräftig auf seinem Pferd, seine Haltung zeugte nicht von den Strapazen der Reise, die er hinter sich hatte. Wie stark er doch war, mein Goethe! Als er mich entdeckte, nahm er eine Hand vom Zügel und streckte sie nach mir aus. Er sehnte sich nach mir! Ich sehnte mich nach ihm. Das Warten hatte ein Ende! Er zügelte sein Pferd, als er noch etwa einen Steinwurf entfernt war. Ich machte noch ein paar hastige Schritte auf ihn zu, dann standen wir nebeneinander. Er stieg gar nicht erst ab, er beugte sich vom Pferd herunter, weit vornüber, und küsste mich. Es war einfach wunderbar. Unsere Lippen wollten sich nie wieder loslassen. Ich vergaß völlig in welch merkwürdiger Pose wir eigentlich verweilten – ich vergaß alles um mich herum. Da war nur Goethe. Sein stoppeliges Kinn, seine warmen Lippen, seine behandschuhte Hand, die mich im Nacken streichelte. Irgendwann gewann dann doch die Schwerkraft und Goethe kippte vornüber vom Pferd. Er stürzte förmlich auf mich drauf. Ich umarmte ihn eng, um ihm am Fallen zu hindern, er verhedderte sich mit dem Fuß im Sattel – schließlich endeten wir als lachendes Häuflein auf der Straße. Er war auf mich drauf gefallen und er wollte schon wieder aufstehen, doch ich riss ihn mit einer Umarmung wieder an mich und band ihn in einen erneuten, unendlich währenden Kuss. Ich drehte mich herum und wälzte mich über ihn. Meine Zöpfe fielen über meine Schulter und kitzelten ihn im Gesicht. Er versuchte mich lachend abzuschütteln, doch ich saß fest auf ihm wie ein Rodeoreiter.
Schließlich schafften wir es doch noch zum Pfarrershaus. Wir banden sein Pferd an und gingen hinein um meine Familie zu begrüßen. Meine Mutter billigte mein staubiges Kleid mit einem tadelnden Blick, bei den Übrigen lösten die recht eindeutigen Dreckflecken jedoch Gelächter aus. Goethe hatte jedem ein Geschenk aus der Stadt mitgebracht. Bücher für meinem Vater, einfachen Schmuck für die Frauen (Maria bekam eine kupferne Brosche, ich eine silberne Haarnadel). Aber eigentlich hielt uns nicht viel im Haus und in Gesellschaft. Und so verabschiedeten wir uns gleich wieder auf einen Spaziergang.
Wir liefen Hand in Hand einfach los. Überließen unseren Weg Gottes Gutdünken. Wir strichen durch die Wiesen, Felder und Wälder rund um das Dorf. Es war wunderbar draußen unter dem Vollmond. Auf einem kleinen Hügel an einem Waldrand setzten wir uns ins hohe Gras. Die Grillen zirpten, die Gräser raschelten in der angenehm kühlen nächtlichen Brise. Die Wolken huschten wie fliegende Watte vor dem Mond her. Die Luft roch lieblich frisch nach Wiesenkräutern – aber auch nach dem Vieh. Wir saßen minutenlang nur so da und umarmten uns lächelnd. Wir genossen die wunderschöne Nacht, die Natur und das Zusammensein. Gedankenverloren spielte seine Hand mit einer Strähne an meinem Ohr, die es nicht in meinen Zopf geschafft hatte. Ich kuschelte meinen Kopf an seine weiche Wange. Wir hatten diesen Platz komplett für uns allein. Kaum jemand war um diese Zeit überhaupt noch wach. Höchstens das verrückte Studentenvolk, dessen liebenswertester Sprössling hier dicht bei mir war. Kein Mensch war weit und breit zu hören oder gar zu sehen. Sogar das Vieh schlief – anders als die Wildtiere, die die typische nächtliche Geräuschkulisse aus Zirpen, Schuhuen, Flattern und Knacken lieferten. Aber wir hatten diesen Platz für uns allein. Diese ganze Nacht, für uns.

Ich wollte es nicht wahrhaben, aber auch dieses Mal ging vorbei. Wir wurden schmerzlich daran erinnert, als ein erster rötlicher Schein der Morgendämmerung am Horizont auftauchte. Immerhin half mir das spärliche Licht dabei meinen Schuh zu finden, den ich irgendwo in dem hohen Gras verloren hatte. Goethe faltete gerade seinen Hemdkragen zurecht, ohne hinzusehen. Sein Blick war nachdenklich-verschlossen auf den Morgenstreifen gerichtet. Dieser Blick ließ mein Hochgefühl langsam aber sicher verebben.
Was ist?“, fragte ich ihn, indem ich ihm meinen Arm um die Schultern legte.
Was?“, fragte er aufgeschreckt. Er guckte mich fragend an. Doch in seinem Blick lag mehr als nur eine unterschwellige Traurigkeit.
Worüber sinnst du so angestrengt nach? Was macht dich so traurig?“, hakte ich nach.
Ach, nichts. Nur dass ich jetzt schon wieder von dir weg muss.“
Er drückte mir einen heuchlerischen Kuss auf die Wange. War das die ganze Wahrheit? Als er sah wie sich meine Züge verklärten, ergänzte er schnell:
Aber sei nicht traurig. Ich bin bald wieder da. Ich werde immer da sein!“
Nichts hoffte ich mehr. Nichts wollte ich mehr, als immer mit ihm zusammen zu sein. Doch der Gedanke versetzte mich aus irgendeinem Grund nicht in eine solch euphorische Vorfreude, wie es gestern Nachmittag der Gedanke an das Treffen heute Nacht getan hatte. Irgendetwas passte nicht ins Bild. Wir hatten soviel Spaß zusammen, doch auf irgendeine Weise passte nicht alles. Ich konnte mir nicht wirklich vorstellen wie Goethes Arbeit war. Wie Goethe der Student lebte. Wie ich, ein einfaches Mädchen vom Lande, in der hohen Gesellschaft von Richtern und Rechtsgelehrten leben könnte. Aber wir liebten uns! Das war doch schließlich alles, was zählte – oder? Sein Blick verriet mir auch nichts über die Zukunft – unsere Zukunft.
Du liebst mich doch, oder?“, fragte ich ihn.
Natürlich! Ich hab dir doch grad gesagt, dass ich immer für dich da sein werde.“
Ich nickte und schluckte meine Sorgen im Ansatz herunter. Aber neben der Sorge um die Zukunft blieb leider der Abschied, der unmittelbar bevorstand – auch wenn es nur ein paar Tage sein mochten, die uns trennen würden.
Wir waren wieder an unserem Haus angelangt. Goethe holte wortlos sein Pferd. Wir standen uns kurz schweigend gegenüber, wussten nicht, wie wir unsere Gefühle ausdrücken sollten. Schließlich übermannten mich die Tränen und ich stürzte mich in seine Arme. Auch seine Augen begannen zu glänzen und er musste zwinkern.
Bis zum nächsten Mal dann! Ich freue mich jetzt schon. Ich kann's kaum erwarten.“, sagte er, während er versuchte sich sanft aus der Umarmung zu lösen.
Was gab es dazu noch zu sagen? Ach ja.
Ich liebe dich.“
Ich dich auch.“, jetzt tropfte es auch aus seinen Augen feucht und salzig. Ich küsste nocheinmal seinen Mund und schmeckte das Salz. Unsere Nasen, feucht von den Tränen, rieben sich aneinander während unseres minutenlangen Abschiedskusses. Die Vorstellung, dies sei der letzte Kuss, das letzte Mal dass ich ihn sah, hielt den trüben Schleier vor meinen Augen. Auch wenn ich mit aller Anstrengung versuchte diesen Gedanken zu verdrängen wusste ich doch, dass ich ihn so oder so erst einmal eine Weile nicht sehen würde. Wie lange wirklich, wusste nur Gott. Er schwang sich in den Sattel, hielt aber noch sehr lange meine Hand, bevor er schließlich losritt. Er sah sich oft zu mir um, bis er um die erste Wegbiegung ritt. Seine Gestalt war ein wenig zusammengesackt. Geknickt, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich wendete mich ab und ging ins Haus. Ich spürte kaum die kühle Morgenluft, nicht den Türgriff in meiner Hand und auch das vertraute Knarren der Treppenstufen unter meinen Füßen nahm ich nicht wahr. Das raue Holz des Treppengeländers glitt unter meiner Hand hindurch wie seine rauen Wangen.
Und ich setzte mich wieder auf den Stuhl ans Fenster.

[Eine Begegnung von Friederike und Goethe aus ihrer Sicht, Deutsch-Hausaufgabe]

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