Montag, 12. Dezember 2011

Der kopflose Weihnachtsmann


    Der Weihnachtsschmaus war aufgedeckt. Julia und ihr sechsjähriger Sohn, Kai, saßen schon am Tisch, doch ein Stuhl war noch leer. Ungeduldig blickte Julia immer wieder zu der großen Uhr über der Tür. Sollten sie schon anfangen oder noch warten? Es war immerhin Heiligabend. Wo blieb Markus bloß? Sonst waren sie es ja gewohnt umsonst auf ihn zu warten, aber heute?
    „Wann kommt Papa?“, fragte Kai wie aufs Stichwort.
    „Er wollte eigentlich vor einer Stunde da sein.“, antwortete Julia.
    „Wo ist er denn noch? Arbeitet er etwa auch an Weihnachten so lange?“
    „Ja mein Liebling, dein Vater muss sehr viel arbeiten.“, sagte Julia.
    Die Wahrheit war: Markus kam eigentlich nie pünktlich zum Essen. Eigentlich war Markus nie da, sondern immer bei der Arbeit. Immer wenn sie verabredet waren kam doch noch irgendein wichtiges Meeting dazwischen oder Markus aß bei einem Geschäftsessen zu Abend. Oder er traf sich mit seinen Kumpels um sich zu besaufen. Ob er heute wieder betrunken heimkommen würde? So oder so versuchte Julia alles, um ihrem Sohn eine etwas heilere Welt vorzugaukeln als sie war. So war Markus' Arbeit fürchterlich wichtig für die Gesellschaft (eigentlich war er bei einer Makler-Firma angestellt) und natürlich konnte Markus seinen Sohn auch liebhaben, wenn er nicht da war.
    Julia seufzte, legte ihre Ellbogen auf den Tisch und stützte ihren Kopf in die Hände. Sie lächelte ihren Sohn verträumt über den Tisch hinweg an. Kai spielte mit seinem Besteck, gerade versuchte er einen Löffel genau auf der Tellerkante auszubalancieren. Er hatte dunkle Haare und ein für sein Alter ziemlich kantiges Gesicht und Julia liebte ihn mehr als alles andere auf dieser Welt. Sie seufzte erneut, in Gedanken an den fehlenden Vater und Kai drehte ihr fragend das Gesicht zu. Gerade wollte Julia vorschlagen doch schon anzufangen zu essen, als es an der Tür klingelte.
    „Ist das Papa?“
    „Ich weiß nicht Schatz. Warte hier, ich gehe nachschauen.“
    Julia war in wenigen Schritten bei der Tür. Wäre es Markus gewesen hätte er sie jetzt eigentlich aufschließen müssen. Doch das vertraute Geräusch des Schlüssels im Schloss blieb aus. Julia zögerte kurz, dann versuchte sie zuerst durch den Türspion einen Blick auf ihren Besucher zu werfen. Doch es war dunkel draußen und sie konnte nichts erkennen. Sie schüttelte kurz verwundert den Kopf – da war doch niemand. Entweder das war ein Klingelstreich gewesen oder sie hatten sich das Klingeln nur eingebildet. Nur um sicherzugehen öffnete sie schwungvoll die Haustür.
    Ein Schwall kalter Luft kam ihr entgegen. Und dort, auf ihrer Fußmatte, stand ein Weihnachtsmann. Er war groß, so groß dass Julia ihm mitten auf den Bauch anstatt ins Gesicht starrte. Sie blickte hoch – und schrie kurz und schrill auf.
    Da war kein Kopf!
    Angelockt von dem Schrei kam Kai angelaufen, er riss die Augen auf und stellte sich dann hinter seine Mutter und klammerte sich an ihr fest. Statt eines Halses war am rot-weißen Mantelkragen nur ein undefinierbarer fleischiger Stumpf zu sehen. Julia stockte der Atem, sie zitterte und wich langsam zurück, die Kälte kroch ihr in die Brust. Der Weihnachtsmann machte einen bedrohlichen Schritt von der Fußmatte auf die Türschwelle.
    „Hohohoho! Geschenke!“, sagte er mit einer abgrundtiefen, gruseligen Stimme.
    Er hatte einen Sack über der Schulter und drehte sich nun kurz so, dass sie diesen sehen konnten.
    „Aber vorher...“
    Mit der freien Hand griff der Weihnachtsmann in seine Manteltasche. Dabei ging er immer weiter in den Flur hinein. Julia und Kai standen inzwischen schon wieder in der Tür zur Stube, als der Weihnachtsmann die Hand langsam wieder aus der Tasche nahm, ein Messer umschließend. Julia weitete die Augen und keuchte auf. Sie wich in das Zimmer zurück, das Telefon auf der anderen Seite im Sinn.
    Der kopflose Weihnachtsmann zeigte mit dem Messer auf sie und dirigierte sie so direkt vor den reich gedeckten Esstisch. Er kam immer näher an sie heran, Kai passte nicht mehr hinter Julia, kam zitternd hinter ihr hervor und stellte sich neben sie. Das Messer kam immer näher, schon war es direkt zwischen ihnen. Der kopflose Weihnachtsmann konnte sich anscheinend nicht entscheiden, mit wem er anfangen sollte.
    Julia hatte Todesangst. Sie wollte ihren Sohn um jeden Preis beschützen, war aber wie gelähmt beim Anblick des spitzen Stahls neben ihr und dem ekligen Halsstumpf des Kopflosen vor ihr.
    Plötzlich fuhr das Messer vorwärts – zwischen Julia und Kai durch und aufs Geratewohl in den Braten. Der kopflose Weihnachtsmann schnitt ein Stück von dem Braten ab! Julia war endgültig mit den Nerven am Ende. Was war hier nur los? Was war das für ein Spuk? Eigentlich konnte so etwas doch nur aus einem Traum kommen. Eine Figur aus einem Horrorfilm, die in fremde Häuser eindrang um Braten zu schneiden anstatt die Bewohner umzubringen. Doch diese hier vor ihr nahm sich seelenruhig ein Stück Fleisch und führte es in Richtung der oberen Mantelknöpfe. Die Hand des Weihnachtsmanns schob den Mantel ein Stück weit auf, und gab den Blick frei auf einen merkwürdigen Hautgnubbel direkt dahinter. Julia begann stutzig zu werden. Als die Hand einen Knopf öffnete und den Spalt weiter aufschob kam nach und nach eine Nase, dann ein Mund zum Vorschein. Kai und Julia kippte die Kinnlade runter. Was da zum Vorschein kam war Markus' Gesicht. Dieser guckte unter seinem künstlichen Halsstummel unschuldig in die Gegend und biss von dem Bratenstück ab. Julias Erstaunen schlug in Wut und Empörung um.
    „Was fällt dir ein!?“
    „Entschuldige die Verspätung, ich bin manchmal etwas kopflos.“, entgegnete Markus, auf die mit Kunstblut verzierte Gummimaske, die auf seinem Kopf saß, deutend.
    Zum ersten Mal seit Monaten saßen die drei wieder zusammen am Esstisch. In der vereinten Gesellschaft schmeckte es auch gleich doppelt so gut, wenngleich das Essen schon fast wieder kalt war. Überhaupt war die Stimmung am Tisch doch noch etwas unterkühlt – immerhin hatte Markus den beiden gerade einen ausgewachsenen Schrecken fürs Leben eingejagt (und das an Weihnachten). Oder lag das nur an der noch immer offenstehenden Haustür? Sie hatten versäumt sie zu schließen und holten es nun nach.
    Später schüttete Markus aus seinem Jutesack einen riesigen Berg Schokoweihnachtsmänner. „Süßes für meine süße Familie“, erklärte er. Hörte Julia da etwas wie Reue in seiner Stimme mitschwingen? Hoffnungsvoll und fast wieder lächelnd sah sie ihren Mann an. Dieser zuckte lächelnd die Schultern und legte ihr vorsichtig den Arm um die Schultern. Sie beobachteten fasziniert Kai, wie er im wahrsten Sinne des Wortes in Schokoweihnachtsmännern badete. Schließlich nahm er einen, wickelte ihn aus der Verpackung, sah Markus dabei mahnend an – und biss dem Schokoweihnachtsmann den Kopf ab.

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