Der Weihnachtsschmaus war aufgedeckt.
Julia und ihr sechsjähriger Sohn, Kai, saßen schon am Tisch, doch
ein Stuhl war noch leer. Ungeduldig blickte Julia immer wieder zu der
großen Uhr über der Tür. Sollten sie schon anfangen oder noch
warten? Es war immerhin Heiligabend. Wo blieb Markus bloß? Sonst
waren sie es ja gewohnt umsonst auf ihn zu warten, aber heute?
„Er wollte
eigentlich vor einer Stunde da sein.“, antwortete Julia.
„Wo ist er denn noch? Arbeitet er
etwa auch an Weihnachten so lange?“
„Ja mein Liebling, dein Vater muss
sehr viel arbeiten.“, sagte Julia.
Die Wahrheit war: Markus kam eigentlich
nie pünktlich zum Essen. Eigentlich war Markus nie da, sondern immer
bei der Arbeit. Immer wenn sie verabredet waren kam doch noch
irgendein wichtiges Meeting dazwischen oder Markus aß bei einem
Geschäftsessen zu Abend. Oder er traf sich mit seinen Kumpels um
sich zu besaufen. Ob er heute wieder betrunken heimkommen würde? So
oder so versuchte Julia alles, um ihrem Sohn eine etwas heilere Welt
vorzugaukeln als sie war. So war Markus' Arbeit fürchterlich wichtig
für die Gesellschaft (eigentlich war er bei einer Makler-Firma
angestellt) und natürlich konnte Markus seinen Sohn auch liebhaben,
wenn er nicht da war.
Julia seufzte, legte ihre Ellbogen auf
den Tisch und stützte ihren Kopf in die Hände. Sie lächelte ihren
Sohn verträumt über den Tisch hinweg an. Kai spielte mit seinem
Besteck, gerade versuchte er einen Löffel genau auf der Tellerkante
auszubalancieren. Er hatte dunkle Haare und ein für sein Alter
ziemlich kantiges Gesicht
und Julia liebte ihn mehr als alles andere auf dieser Welt. Sie
seufzte erneut, in Gedanken an den fehlenden Vater und Kai drehte ihr
fragend das Gesicht zu. Gerade wollte Julia vorschlagen doch schon
anzufangen zu essen, als es an der Tür klingelte.
„Ist das Papa?“
„Ich weiß nicht Schatz. Warte hier,
ich gehe nachschauen.“
Julia war in wenigen Schritten bei der
Tür. Wäre es Markus gewesen hätte er sie jetzt eigentlich
aufschließen müssen. Doch das vertraute Geräusch des Schlüssels
im Schloss blieb aus. Julia zögerte kurz, dann versuchte sie zuerst
durch den Türspion einen Blick auf ihren Besucher zu werfen. Doch es
war dunkel draußen und sie konnte nichts erkennen. Sie schüttelte
kurz verwundert den Kopf – da war doch niemand. Entweder das war
ein Klingelstreich gewesen oder sie hatten sich das Klingeln nur
eingebildet. Nur um sicherzugehen öffnete sie schwungvoll die
Haustür.
Ein Schwall kalter Luft kam ihr
entgegen. Und dort, auf ihrer Fußmatte, stand ein Weihnachtsmann. Er
war groß, so groß dass Julia ihm mitten auf den Bauch anstatt ins
Gesicht starrte. Sie blickte hoch – und schrie kurz und schrill
auf.
Da war kein Kopf!
Angelockt von dem Schrei kam Kai
angelaufen, er riss die Augen auf und stellte sich dann hinter seine
Mutter und klammerte sich an ihr fest. Statt eines Halses war am
rot-weißen Mantelkragen nur ein undefinierbarer fleischiger Stumpf
zu sehen. Julia stockte der Atem, sie zitterte und wich langsam
zurück, die Kälte kroch ihr in die Brust. Der Weihnachtsmann machte
einen bedrohlichen Schritt von der Fußmatte auf die Türschwelle.
„Hohohoho! Geschenke!“, sagte er
mit einer abgrundtiefen, gruseligen Stimme.
Er hatte einen Sack über der Schulter
und drehte sich nun kurz so, dass sie diesen sehen konnten.
„Aber vorher...“
Mit der freien Hand griff der
Weihnachtsmann in seine Manteltasche. Dabei ging er immer weiter in
den Flur hinein. Julia und Kai standen inzwischen schon wieder in der
Tür zur Stube, als der Weihnachtsmann die Hand langsam wieder aus
der Tasche nahm, ein Messer umschließend. Julia weitete die Augen
und keuchte auf. Sie wich in das Zimmer zurück, das Telefon auf der
anderen Seite im Sinn.
Der kopflose Weihnachtsmann zeigte mit
dem Messer auf sie und dirigierte sie so direkt vor den reich
gedeckten Esstisch. Er kam immer näher an sie heran, Kai passte
nicht mehr hinter Julia, kam zitternd hinter ihr hervor und stellte
sich neben sie. Das Messer kam immer näher, schon war es direkt
zwischen ihnen. Der kopflose Weihnachtsmann konnte sich anscheinend
nicht entscheiden, mit wem er anfangen sollte.
Julia hatte Todesangst. Sie wollte
ihren Sohn um jeden Preis beschützen, war aber wie gelähmt beim
Anblick des spitzen Stahls neben ihr und dem ekligen Halsstumpf des
Kopflosen vor ihr.
Plötzlich fuhr das Messer vorwärts –
zwischen Julia und Kai durch und aufs Geratewohl in den Braten. Der
kopflose Weihnachtsmann schnitt ein Stück von dem Braten ab! Julia
war endgültig mit den Nerven am Ende. Was war hier nur los? Was war
das für ein Spuk? Eigentlich konnte so etwas doch nur aus einem
Traum kommen. Eine Figur aus einem Horrorfilm, die in fremde Häuser
eindrang um Braten zu schneiden anstatt die Bewohner umzubringen.
Doch diese hier vor ihr nahm sich seelenruhig ein Stück Fleisch und
führte es in Richtung der oberen Mantelknöpfe. Die Hand des
Weihnachtsmanns schob den Mantel ein Stück weit auf, und gab den
Blick frei auf einen merkwürdigen Hautgnubbel direkt dahinter. Julia
begann stutzig zu werden. Als die Hand einen Knopf öffnete und den
Spalt weiter aufschob kam nach und nach eine Nase, dann ein Mund zum
Vorschein. Kai und Julia kippte die Kinnlade runter. Was da zum
Vorschein kam war Markus' Gesicht. Dieser guckte unter seinem
künstlichen Halsstummel unschuldig in die Gegend und biss von dem
Bratenstück ab. Julias Erstaunen schlug in Wut und Empörung um.
„Was fällt dir ein!?“
„Entschuldige die Verspätung, ich
bin manchmal etwas kopflos.“, entgegnete Markus, auf die mit
Kunstblut verzierte Gummimaske, die auf seinem Kopf saß, deutend.
Zum ersten Mal seit Monaten saßen die
drei wieder zusammen am Esstisch. In der vereinten Gesellschaft
schmeckte es auch gleich doppelt so gut, wenngleich das Essen schon
fast wieder kalt war. Überhaupt war die Stimmung am Tisch doch
noch etwas unterkühlt – immerhin hatte Markus den beiden gerade
einen ausgewachsenen Schrecken fürs Leben eingejagt (und das an
Weihnachten). Oder lag das nur an der noch immer offenstehenden
Haustür? Sie hatten versäumt sie zu schließen und holten es nun
nach.
Später schüttete Markus aus seinem
Jutesack einen riesigen Berg Schokoweihnachtsmänner. „Süßes für
meine süße Familie“, erklärte er. Hörte Julia da etwas wie Reue
in seiner Stimme mitschwingen? Hoffnungsvoll und fast wieder lächelnd
sah sie ihren Mann an. Dieser zuckte lächelnd die Schultern und
legte ihr vorsichtig den Arm um die Schultern. Sie beobachteten
fasziniert Kai, wie er im wahrsten Sinne des Wortes in
Schokoweihnachtsmännern badete. Schließlich nahm er einen, wickelte
ihn aus der Verpackung, sah Markus dabei mahnend an – und biss dem
Schokoweihnachtsmann den Kopf ab.
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